Leseprobe
Als ich endlich mit den Hausaufgaben fertig war, war es schon sehr spät am Nachmittag. Ich lief nach vorne in den Laden und ordnete einige Antiquitäten in die Regale zurück, die von rücksichtslosen Kunden einfach liegengelassen wurden. Mr. Cheng sagte nichts mehr, sondern schaute mich mit seinen warmen, sorgenvollen Augen an. Als ich die letzten Sachen weggeräumt hatte, gesellte ich mich hinter der Theke zu ihm. Die Salbe brannte plötzlich heftig wie Feuer und ich musste mich etwas abstützen, um nicht erschlagen aus den Socken zu fallen. „Es ist aber gut so. Es wirkt“, beruhigte Mr. Cheng mich und lächelte mich an. „Hier, trink ein bisschen Tee, das wird beruhigen dich.“ Ich nahm die Tasse dankbar entgegen, als mein Blick hinter ihn auf den Tresor fiel, der bisher immer abgeschlossen gewesen war. Ich wollte schon öfters wissen, was sich darin befand, doch Mr. Cheng wollte es mir nie verraten. Jetzt stand die Tür auf. „Der Tresor ist offen“, sagte ich und zeigte auf die Tür. Mr. Chengs Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. „Ich weiß“, nickte er. „Es ist Zeit.“ Er schaute nach draußen. Seine Hände ballten sich fest um seinen Gehstock. „Was meinen Sie?“, fragte ich. Mr. Cheng schien nervös zu sein. „Das du wirst bald erfahren“, sagte er und schaute wieder nach draußen. Ich kniff meine Augenbrauen zusammen. Ich folgte seinem Blick nach draußen. Was ich sah, ließ meinen Atem stocken und ich erstarrte. Der Mann von heute Mittag stand dort vor der Tür und schaute uns an. Doch dieses Mal war er nicht alleine. Fünf weitere Männer begleiteten ihn. Sie standen einfach nur da. Stocksteif und still. Kein Muskel bewegte sich. Es hätten genauso gut auch Statuen sein können. „Es ist so weit“, sagte Mr. Cheng und drehte sich dann zu mir. Im selben Moment sah ich, wie die Männer sich rührten, direkt auf den Laden zu. Mr. Cheng holte aus seinem grünen Mantel etwas raus. Es war oval und groß. „Ist das ein Ei?“, fragte ich. Mr. Cheng drückte es mir in die Hand und umfasste dann meine Hände mit seinen. „Harry. Du bist was Besonderes, hörst du“, sagte er und seine Stimme klang plötzlich dick und traurig, als würde er nur mit Mühe die Tränen zurückhalten. „Du warst für mich wie ein Sohn. Ich wünschte, ich könnte dich weiter begleiten auf deiner Reise, aber jetzt ist Schluss für mich.“ „Was … wie, warte … Mr. Cheng, was…“, begann ich. „Psst, Harry. Hör mir zu.“ Eine Träne kullerte seine Wange herunter. Hinter uns platzte die Tür auf. „Du bist ein Halbtresalteses. Das ist dein Drache hier. Er wird begleiten und beschützen dich. Er ist dein Seelentier. Etwas Dunkles wird auf dich zukommen und du musst stark sein jetzt!“ Verwirrt schaute ich ihn an. „Cheng!“, rief der schwarze Mann am Eingang. Mr. Chengs Gesichtszüge wurden plötzlich finster. „Yondru“, sagte er und drehte sich um. Er gab mir einen leichten Schubs Richtung Hintertür. Ich verstand. „Wir wollen keinen Streit“, begann der Mann ganz vorne, Yondru. „Sehr gut. Wie kann ich euch helfen?“, fragte Mr. Cheng ruhig. Er lächelte und ging um die Theke. Dabei hielt er mich hinter sich. „Du weißt genau, was wir wollen“, erwiderte Yondru. Sein Gesicht zeigte keine Regung, keine Mimik. Es war starr und ohne Emotion. „Dann, leider, kann ich nicht helfen.“ Yondru lachte auf. Ein kalter Schauer rann meinen Rücken herunter. Dann lieber doch das regungslose Gesicht als dieses grässliche, abfällige Lachen. „Du hast nicht die Kraft, uns alle aufzuhalten, alter Mann. Früher oder später werden wir ihn bekommen“, sagte Yondru mit einer amüsierten Stimme. Ich zog misstrauisch meine Augenbrauen zusammen. Seine Stimme passte nicht zu seiner Aussage und seine Mimik passte nicht zu seiner Stimme. Sein ganzes Auftreten war verwirrend konträr. Und wen meinten sie mit ihn? Meinten sie mich? Mit großen Augen schaute ich zu Mr. Cheng. „Nicht, so lange ich lebe und beschütze ihn“, erwiderte Mr. Cheng finster.„Verschwinde jetzt, Harry.“ Ich wich einen Schritt zurück, als Mr. Cheng seine Fußstellung veränderte, den Gehstock mit beiden Händen fest umklammerte und vor sich bereithielt. Als Antwort schienen sich die sechs Männer vor ihm anzuspannen und mit langsamen, kontrollierten und subtilen Bewegungen veränderten sie ihre Position. „Dem Jungen darf nichts passieren“, befahl Yondru. „Ihn brauchen wir lebend. Den Alten könnt ihr töten.“ Ich umklammerte das Ei, als würde mein Leben davon abhängen. „Verschwinde jetzt, Harry!“, sagte Mr. Cheng mir bestimmend und stieß den Gehstock auf den Boden. Eine Schockwelle fuhr durch den Boden und plötzlich brannte der ganze Laden. „Jetzt!“, befahl Mr. Cheng mir nochmal. Ich sah nur noch, wie die Männer sich alle auf Mr. Cheng stürzten und Mr. Cheng einen nach dem anderen zur Seite schleuderte, dann war ich aus der Hintertür und rannte die Straße entlang. Ein lauter Knall ertönte hinter mir und ich blieb abrupt stehen. Ich drehte mich um. Der Laden brannte lichterloh. Rauch stieg wie eine Wand von ihm hoch. Dann sah ich Yondru aus den Flammen treten. Tränen rannen mir die Wange herunter. Ich drehte mich um und rannte, was das Zeug hielt.